Von der Suche nach dem verlorenen Kinderblick und vom wundervollen Chaos der Kindheit
Gerhard Fischer
Lesen · Schreiben · Rechnen
Jene Einfalt der schönsten Lebensjahre zwischen sechs und elf wird an 6 Heften aus der Volksschulzeit von Gerhard Fischer dargestellt.
Jede Doppelseite der Schulhefte zeigt die Schreibspur, die der Volksschüler in vier Jahren zu durchlaufen hatte. Es sind die Nachkriegsjahre 1958, 1959, 1960, 1961.
Beachtenswert sind weiters die eingestreuten bunten Zeichnungen, die die handgeschriebenen Aufsätze und Rechenaufgaben begleiten, Bilder und Texte belichten sich gegenseitig, von Blatt zu Blatt wird ein bunt schillernder Paradiesvogel sichtbar.
Die Anhäufung von blauer Farbtinte auf der Heftseite durch die Füllfeder zeigt das langjährige Heranwachsen der kindlichen Handschrift. Was in den 6 Heftkonvoluten (Aufsatzheft, Gedächtnisheft, Reinschrift der Aufsätze, Hausübungsheft) zu sehen ist, ist die über das Papier laufende Hand, leicht fröhlich, überrascht über ihre Freiheit und die Wege, über die sie gelenkt wird.
Die Hand schreibt etwas auf dem Papier, sie zieht Linien und Kurven, sie hebt sich und senkt sich, sie setzt ab, setzt wieder an. So bedeckt die Schrift zunächst die Leere der Seite, so entwirft sie ein ornamentales Bild, gliedert sich in Kolonnen und Absätze, formt sich zu Blöcken, zeigt Risse und Sprünge.
Der Schreibakt mit Tinte ist auch mit dem Einsatz von Farbstiften verbunden. Man kann den Volkschulheften Gerhard Fischers gewiss malerischen oder graphischen Wert beimessen. Rot, gelb, blau, grün und braun sind die primär verwendeten Buntstifte.
Die Farbigkeit einer Tinte hängt von der Art der verwendeten synthetischen Farbstoffe ab. Für blaue Tinte wird Triarylmethan - Farbstoff verwendet, für rote Tinte wird der Farbstoff Eosin verwendet(Eosin Y - vom griechischen εως »Morgenröte« ist ein roter, saurer Farbstoff aus der Gruppe Xanthenfarbstoffe), eine grüne Färbung erhält man über saures Indigotin. Die Eisengallustinte wird aus metallischen Salzen und der Gerbsäure der Galläpfel hergestellt.
Farbe ist gewöhnlich der Ort des Triebes, denn Farben wollen die Erregung unterbringen. Wie auf Unterwasseroder Vulkankarten die Angabe glühend heisser Zonen, kalter oder warmer Strömungen ausgezeichnet ist, so setzt die Hand an einem gewissen Ort, zu einer bestimmten Zeit Farbknäuel; noch im feinsten bunten Federstrich, der übers Blatt tanzt, pulsiert die Lust des Schulkindes, das seinen Körper ohne Hemmung ausagieren möchte.
Da ist der . muskuläre Akt des Schreibens, der Prägung der Buchstaben, dieser Gestus mit dem die kindliche Hand vorerst eine Metallfeder, später eine Füllfeder ergreift, diese auf eine Oberfläche stützt und darauf eindrückend (oder sanft streichelnd), fortgleitet.
»Wir kennen die Physiologie des Körpers beim Schreiben heute ziemlich genau, wenigstens die unseres westlichen Körpers (man muss immer eine scharfe Trennung zwischen dem Schreiben eines Buchstabens und dem eines Ideogramms aufrechterhalten). Wir wissen, dass die kürzeste Geste nicht unter acht Hundertstel einer Sekunde sinken kann, und mit eben dieser Geschwindigkeit – wenn wir geübt sind – führen wir auch die Grundstriche unserer Schrift aus. Wir wissen, dass wir die Rundungen unserer Buchstaben im gegenläufigen Sinne (umgekehrt zum Uhrzeigersinn) aus führen; dass wir lange Striche schneller als kurze machen, so dass die beiden Stricharten sich angleichen, und dass wir dieselbe Zeit aufwenden für die Schreibung von a und d; wir wissen auch, dass wir die unteren Grundstriche leichter schreiben als die oberen; wir wissen schliesslich, dass wir mehr Zeit zum Schreiben eines Punktes als zum Schreiben eines Kommas brauchen, denn was beim Schreiben Zeit kostet, ist das Heben der Feder«.
Roland Barthes »Variati ons sur l‘écriture« / »Variationen über die Schrift«, Paris 2006.
Im Schulwesen des Abendlandes ist die Schrift des Taferlklasslers gewöhnlich durch Regeln erzwungen gewesen: Reduktion der erlaubten Schriften auf einige wenige codierte Typen, Benützung gewisser Hefte, vorgeschriebene Schreibgeräte, Unterwerfung unter Modelle; es handelte sich nicht darum, eine ästhetische Schrift zu produzieren, sondern eine konforme Schrift.
Die Strenge des alten Unterrichts hat die gerade Schrift postuliert, heute verordnet man (streng wissenschaftlich),dass die beste Schrift die leicht geneigte Schrift ist: die seitliche Bewegung der Hand ist dabei beschwingt und rasch. Im Abendland ist der oberste Wert, vielleicht infolge jüdisch- christlicher Zwänge, noch immer die Freiheit: die glückliche Schrift ist die befreite Schrift.
Die Schrift ist historisch gesehen einerseits ein streng merkantiles Objekt, ein Instrument von Macht und Segregation, andererseits ist sie Praxis des Genusses, mit den triebgebundenen Tiefenschichten des Körpers und den subtilsten und gelungensten Produktionen der Kunst liiert.